Analyse
Ukraine-Krieg Kiew schlägt zurück: Geländegewinne bei Charkiw, Erfolge in Russland

An der Charkiw-Front: Dieses S-300-System brennt nach einem Treffer aus.
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Im Norden von Charkiw haben die ukrainischen Streitkräfte die Russen gestoppt, teilweise sogar zurückgedrängt. Und mit den amerikanischen HIMARS-Werfern gelingen nun Schläge tief in Russlands Kernland. Eine echte Wende ist das aber noch lange nicht.
Der russische Angriff im Norden von Charkiw hatte die Ukrainer unvorbereitet getroffen. Die schwachen Kräfte der Territorialverteidigung konnten die Russen nicht aufhalten. Innerhalb weniger Tage war es den Invasoren gelungen, an einigen Stellen mehr als fünf Kilometer vorzurücken und eine ganze Reihe von Dörfern zu besetzen.
Doch damit hatte sich, und das ist die gute Nachricht im jüngsten Kriegsverlauf, die Angriffskraft der Russen erschöpft. Kiew hat seither große Mengen an Truppen in die Region gebracht, die Ukrainer sind den Russen jetzt zahlenmäßig überlegen, zumindest partiell. Angesichts ihrer geringen Truppenstärke hätten die Russen die Millionenstadt Charkiw sowieso nicht erobern können. Wohl aber bestand real die Gefahr, dass sie ihren Einbruch weiter vergrößern und so nah an die Metropole heranrücken, dass sie das ganze Stadtgebiet mit Rohrartillerie und einfachen FPV-Drohnen hätten bedrohen können.
Das ist nicht geschehen.
Die Ukrainer halten weiterhin die Ortschaft Lypzi, dazu konnten sie sich im nördlichen Teil von Woltschansk behaupten. Die Stadt wird durch einen Fluss geteilt. Die südliche, nach Charkiw gelegene Zone besitzt nur flache, einfache Bebauung und lässt sich deshalb schlecht verteidigen. In der nördlichen Zone halten sich die Ukrainer in der sogenannten «Zitadelle» und im Industriegebiet. Nach allem, was man aus dem Gebiet weiß, sollen die Kämpfe sehr verlustreich sein. Die Ukrainer leiden unter der russischen Feuerkraft und dem Einsatz von Gleitbomben, den Russen fehlt es an frischen Truppen, um weitere Gebiete zu erobern. Und so ist die Front erstarrt, wieder mal wird sich in Positions- und Erschöpfungskämpfen aufgerieben, wie man sie aus dem Donbass kennt.
Angriffe mithilfe des Westens
Aber die ukrainischen Streitkräfte konnten nicht nur die Front halten, mehr noch: Seit sie ihre US-Waffen auch im russischen Kernland einsetzen dürfen, sind spektakuläre Erfolge gelungen. Mindestens zwei Luftabwehrsysteme S-300 fielen derlei Angriffen zum Opfer, hinzu kommt ein S-400, wenn auch an anderer Stelle. Für Putin sind das durchaus schmerzhafte Verluste, vor allem, falls sich die Erfolgsserie fortsetzt. Die in allen TV-Stationen soufflierte Erzählung, es laufe glorreich mit der sogenannten «Spezialoperation» und die finde weit weg von der Heimat statt, wird so kaum zu halten sein.

Selbstfahrende Artillerie erstmals an der Ukraine-Front gesehen
00:53 min
Zumal es den Russen ohne die besagten Systeme sehr schwer fallen wird, weitere Raketenangriffe abzuwehren – auch der Einsatz der US-Jets vom Typ F-16 wird für die Ukrainer einfacher, wenn zuvor die Luftabwehr beschädigt wurde. Die Schläge gegen Putins Luftverteidigung wurden mithilfe der HIMARS-Werfer erreicht, was darauf hindeutet, dass die Amerikaner zumindest für den Moment einen Weg gefunden haben, dass ihre Waffen nicht von den Russen elektronisch gestört werden.
Es ist anzunehmen, dass die getroffenen Systeme solitär und nicht im Rahmen einer verbundenen Luftverteidigung eingesetzt worden sind. Ebenso, dass die Russen nun mit zusätzlichen Radarstationen und Luftverteidigungssystemen für kürzere Reichweite (Buk M3, Tor-2M oder Pantsir) eine integrierte Luftabwehr bei Belgorod aufbauen werden. Vermutlich hatten vorher amerikanische Satelliten die russischen Systeme aufgespürt. Es ist auch wahrscheinlich, dass ausländische Spezialisten die Sättigungsangriffe geplant haben.
Charkiw ist nicht alles: Im Osten bröckelt die Front
Das soll aber nicht von der Feststellung ablenken, dass die Entwicklung im Raum Charkiw für Kiew erfreulich verläuft. Balsam für die geschundenen Streitkräfte – auch weil es im Osten anders aussieht. Hier gelingt den Russen kein Durchbruch und kein Übergang zu einer dynamischen Kriegsführung, es bleibt bei langwierigen Positionskämpfen.
In denen haben die Russen eindeutig die Oberhand, täglich rücken sie an mehreren Stellen vor und können ehemals ukrainische Positionen einnehmen. Noch halten die Ukrainer Tschassiw Jar und Krasnogorowka, werden aber auch dort stark unter Druck gesetzt. Insbesondere bei der strategisch wichtigen Stadt Tschassiw Jar rücken die Russen langsam, aber stetig an den Flanken vor. Derzeit schaffen sie immense Verstärkungen in den Raum Belgorod, angeblich, um sich auf eine erneute Offensive vorzubereiten.
Der Krieg, er ist auch in seiner 120. Woche grausam, hart und unerträglich. Und weit entfernt von einer Wende oder gar Entscheidung.
